Der Besuch der alten Dame : eine tragische Komödie ; Neufassung 1980

Dürrenmatt, Friedrich1990, 1985
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Medienart Buch
ISBN 978-3-257-20835-1
Verfasser Dürrenmatt, Friedrich1990 Wikipedia
Systematik BEL - Belletristik
Schlagworte Macht, Geldfälscherei
Verlag Diogenes
Ort Zürich
Jahr 1985
Umfang 152 S.
Altersbeschränkung keine
Sprache deutsch
Verfasserangabe Friedrich Dürrenmatt
Annotation „Der Besuch der alten Dame", ein Titel - harmlos - der nicht vermuten lässt, welches Ausmaß die Gesellschaftskritik in einer ‚tragischen Komödie', einer - wohlgemerkt - dürrenmattschen ‚tragischen Komödie' annehmen kann. Auch ich - anfangs zweifelnd ob Dürrenmatts Können im Dramenbereich - wurde binnen kürzester Zeit des Lesens in den Bann dieses Dramas gerissen, und kam nicht umhin es zu rezensieren. Kaum ein anderes Drama verstand es mich so zu fesseln, wie das um den Besuch der alten Dame, Claire Zachanassian, die - gleich der Göttin Nemesis? - ausgleichende Gerechtigkeit sucht. Ja, göttlich, so wird sie dargestellt, so fühlt sie sich - doch ist sie nicht nur ein Götzenbild? Über Leben und Tod entscheiden. Ist dies einem Menschen gegeben, einem Menschen über dessen Leben einst auch - wenngleich auch nicht im selben Maße - entschieden wurde? Einem Menschen, der gebrandmarkt wurde, arm und verachtet seine Heimatstadt verließ und nun - märchenhaft reich - zurückkehrt? Claire Zachanassian, oder auch Kläri Wäscher - wie sie von den Güllenern genannt wird - ist ein solcher Mensch. Als junge Frau, vom Güllener Architektensohn Alfred Ill geschwängert, verliert sie auf Grunde von Aussagen bestochener Zeugen einen gegen ihn gerichteten Vaterschaftsprozess. Geächtet verlässt sie die Stadt, es folgt eine schwere Zeit, doch letztlich - wie heißt es doch? „Das Leben schreibt die schönsten Geschichten." - kehrt sie, als homo novus, nach Güllen zurück. Paradox: Die Situation; nicht mehr Kläri ‚Claire' Zachanassian ‚Wäscher' ist arm, sondern Güllen, der Ort vergangener Jugendträume. Kehrt mit ihr auch der Wohlstand zurück? Die Güllener - allen voran Alfred Ill - bauen darauf. Nicht an der Person Zachanassian interessiert - einzig an ihrem Geld - empfangen sie die „alte Dame", ohne zu ahnen was geschehen wird. Naiv sind sie, allzu menschlich, ehe sie bemerken, dass sie, die Bürger der einst florierenden Stadt, bald vor die - schwerste? - Frage ihres Lebens gestellt werden. Gelten Prinzipien auch dann noch, wenn eine beträchtliche Summe Geld ins Spiel kommt? Welchen Preis hat ein menschliches Leben? Das Leben Ills - des Menschen, der egoistisch und anmaßend über Claire Zachanassians Zukunft entschied, der vor Gericht log und die Gerechtigkeit bestach. Das Leben des Menschen, der neuer Bürgermeister von Güllen werden soll. Das Leben des Menschen, der seine Schuld verdrängt hat und nicht bereut. Nun, das Leben eines Menschen lässt sich nicht in Geld aufwiegen? Falsch! Claire Zachanassian bietet den Güllenern eine Milliarde ihres Vermögens, ein Drittel ihres Reichtums für das Leben, nein!, für den Mord an ihrem ehemaligen Geliebten, dem Mensch der sie verrat. Eine Milliarde: Fünfhundert Millionen der Stadt, fünfhundert Millionen den Bürgern: Genug Geld um Güllen in neuem Glanz erstrahlen zu lassen, genug Geld um die Bürger Güllens zu wohlhabenden Menschen zu machen! Auch genug Geld, um sie zu Mördern zu machen? Nein, zentrales Thema dieses Dramas ist meines Erachtens nicht die Frage: „Werden die Güllener zu Mördern? Lassen sie sich vom Reiz des Geldes dazu veranlassen, ihre Prinzipien zu missachten?" Vielmehr ist das zentrale Thema die Frage: „Wie verhielten sich Menschen im Hier und Jetzt, wie verhielte ich mich? Ließe ich mich vom Reiz des Geldes zum Mörder machen? Ließe ich mich von einem einstigen Opfer, dass nun zum Täter wird, ob meiner Prinzipien bestechen?" Doch damit nicht genug, weitaus wichtiger ist die Frage: „Was täte ich - bliebe ich denn meinen Prinzipien treu - um die Menschen von der Tat abzuhalten? Wie verhielte ich mich der Gemeinschaft gegenüber? Dem Opfer?" Deutlich erkennbar - allein an meiner bewussten Verbwahl - ist mir der Aspekt des Verhaltens, das Verhalten des Einzelnen. „Beuge ich mich der Masse, oder schwimme ich gegen den Strom? Handele ich richtig oder falsch?" Zwiesprache mit dem eigenen Gewissen halten - sich selbst hinterfragen, aber auch das Verhalten anderer: Dürrenmatts Drama bewog mich dazu, wenn hierbei auch die von ihm sicherlich intentionierte Kritik an der Gesellschaft im Allgemeinen - derer Entwicklung - im Hintergrund zu bleiben scheint. Aber für mich ist schon die alleinige Kritik am Verhalten einzelner - wenn in meinem Falle auch vordergründig auf ‚Einzelpersonen' bezogen - Kritik an der Gesellschaft ‚im allgemeinen'. Sicherlich, auch der Aspekt der heutigen Rolle des Geldes - einstmals nur Tauschmittel - spielt meines Erachtens eine nicht unerwähnenswerte Rolle: Jedoch ist dieser ja schon, wenn auch nicht ausgesprochen, in die kritische Hinterfragung Verhaltens Einzelner und ‚Vieler' impliziert . Er sollte meiner Meinung nach nicht zu sehr in den Vordergrund gestellt werden, da hierdurch die Übertragbarkeit auf Situationen im alltäglichen Leben besser gewahrt bleibt. Nahezu meisterhaft, s.s.v., versteht es Dürrenmatt, die Gesellschaft zu kritisieren, ohne hierbei explizit anprangernd zu wirken. Er bedient sich hierzu einer eigenständigen Form des Dramas, der tragischen Komödie. Recht eigenwillig - seine Art Elemente von schwarzem Humor und Satire in sein Stück einzubetten. Dürrenmatt schafft es so, eine gewisse Distanz zum tragischen Geschehen aufzubauen. Brecht bezeichnete dies wohl als eine Art V-Effekt, da sich der Zuschauer, bzw. Leser durch die Distanz zum Geschehen immer darüber im klaren ist, dass er sich in einer Theateraufführung befindet. Dies wird u.a. durch die mitunter ebenfalls eigenwillige Bühnenbildgestaltung unterstützt. Es liegt nahe, dass sich Leser und Zuschauer auf Grund dieser Art des V-Effektes während des Lesens bzw. Zuschauens, die Intention des Stückes hinterfragen. Zusammenfassend komme ich zu dem Schluss, dass Dürrenmatts Drama „Der Besuch der alten Dame" zu jenen gehört, die sehr empfehlenswert und - nicht zuletzt zur Freude des Publikums - unterhaltsam sind, ohne dabei der reinen Unterhaltung zu dienen. Jedem, der sich einmal Fragen wie beispielweise „Wie steht es um die menschliche Moral, wie stark ist die Versuchung? Welche Stellenwert nimmt Verantwortung für den Einzelnen, welchen für eine Gruppe ein? Gibt es ein kollektives Versagen, oder versagt nur das Individuelle?" gestellt hat, empfehle ich Dürrenmatts Drama uneingeschränkt, und für jene, die sich nie eine dieser Frage gestellt haben, sehe ich es als Pflichtlektüre an.

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